Gleichgewichthalten – ein Beispiel aus den Sportwissenschaften
Sämtliche nicht-elektronischen Komponenten, Geräte und Versuchseinrichtungen aus den Wissenschaftlichen Werkstätten werden in der Mechanik (WWM) gefertigt. Den 28 MitarbeiterInnen der WWM, die auch beratend tätig sind, sowie den elf Auszubildenden dieser Unterabteilung stehen dafür ein umfangreiches Repertoire an Werkzeugmaschinen, Schweißgeräten, Metall-, Holz- und Kunststoffbearbeitungsmaschinen sowie ein Lackierraum und eine Glasbläser-Werkstatt zur Verfügung. So können in der WWM verschiedenste Materialien, zum Beispiel mithilfe einer Hochdruck-Wasserstrahlschneidanlage oder mit diversen Fräsen, millimetergenau bearbeitet werden. Doch auch überlebensgroße Aufbauten, wie die Kippplattform des HPRC, werden in der WWM konzipiert und gebaut.
Schreinermeister Georg Ritzi programmiert und rüstet das computergesteuerte Holzbearbeitungszentrum der WWM für die Anfertigung von Holzfiguren für das studentische Ausstellungsprojekt „STAYIN‘ ALIVE“. Allgemein erlaubt das modular aufgebaute Bearbeitungszentrum anspruchsvollen Sonderanfertigungen aus Holz, sei es für Innenausstattung/Möbelbau oder Versuchsaufbauten.Die Fachleute der WWM beherrschen spezielle und aufwändige Schweißverfahren, für die es jahrelanger Erfahrung bedarf, wie das Wolfram-Inertgas-Schweißen (WIG-Schweißen). Hier verschweißt Metallbauer Michael Wind gerade ein Anschlussrohr für eine Hochvakuumkammer aus Edelstahl. Das Rohr wird dabei mit Argongas geflutet, um Lufteinschlüsse zu vermeiden.Simon Auer, Feinwerkmechaniker der WWM, bedient eine computergesteuerte Fräsmaschine mit Schwenktisch zur sogenannten „5-Achs Bearbeitung“. Derartiges Fräsen erlaubt die präzise Herstellung von komplexen, 3-dimensionalen Werkstücken. Hier wird gerade ein Aluminiumbauteil für eine Messvorrichtung aus dem Fachbereich Physik bearbeitet.Die Hochdruck-Wasserstrahlschneidanlage der WWM ermöglicht die umweltfreundliche und hochpräzise Schnittbearbeitung fast aller Materialien – ohne Erhitzung oder Verformung. Metallbauer Ralf Honz überwacht hier gerade die Herstellung eines „Ameisenlabyrinths“ aus Kunstsoff für die Verhaltensforschung.
„Die Kippplattform ist das Herzstück unseres Gleichgewichtslabors“, sagt Professor Markus Gruber, Leiter des Bereichs Training und Bewegungswissenschaften in der Fachgruppe Sportwissenschaft der Universität Konstanz. Die steuerbare Bodenplattform, auf die sich die Versuchspersonen des Gleichgewichtslabors stellen, kann über am Computer vordefinierte Sequenzen hochpräzise gekippt werden. „Wir können so gezielt und über viele ProbandInnen vergleichbar das Gleichgewicht einer auf der Plattform stehenden Person stören und beobachten, wie der menschliche Körper auf diese Störungen reagiert, um sie auszugleichen“, erklärt Gruber die Anwendung der Plattform.
Doch wie verwandelt man diese Beobachtungen in belastbare Zahlen? Auch hierbei hilft die Plattform automatisch: Bevor ein Experiment beginnt, wird die jeweilige Versuchsperson auf Schulter und Hüfthöhe mit zwei Stäben verbunden. Sensoren am Ende dieser Stäbe erfassen 1000-mal pro Sekunde deren Position und erlauben so eine millisekundengenaue Berechnung der Körperschwankungen der Versuchsperson. Ein Kraftsensor unterhalb der Kippachse der Plattform erlaubt mit der gleichen zeitlichen Auflösung die Berechnung des Drehmoments, also der gesammelten „Drehwirkung“ aller Kräfte, die während des Versuchs auf die Fußgelenke der Versuchsperson ausgeübt werden.
Auf diese Weise trägt die Kippplattform aus den Wissenschaftlichen Werkstätten entscheidend zur Forschung am HPRC der Universität Konstanz bei, in der alle Facetten von Leistung, Bewegung und körperlicher Belastung untersucht werden – vom Zusammenspiel zwischen Nerven und Muskeln über die Messung von Kraft und Bewegung bis hin zu den Bereichen Herz/Kreislauf, Stoffwechsel und eben Gleichgewicht.
https://www.youtube.com/watch?v=zsC_B-AsQxUVideo-Portrait von Lorenz Assländer und seiner Forschung im Gleichgewichtslabor der Universität Konstanz, in dem auch die beschriebene Kippplattform vorgestellt wird .
In der Regel befinden sich die ProbandInnen während der Messungen auf der Plattform in der Realität, also im selben Raum wie die Messvorrichtung. Seit kurzen untersuchen die Forschenden der Arbeitsgruppe Gruber, insbesondere Dr. Lorenz Assländer und seine Kolleginnen und Kollegen, jedoch auch, wie es um die Balance in künstlichen Welten bestellt ist – durch die Kombination der Kippplattform mit Virtual-Reality (VR)-Technologien. „Gerade die Verknüpfung unterschiedlicher Systeme, in unserem Fall der Kippplattform mit einem VR-System, wird durch die gebündelte Expertise der Mechaniker, Elektroniker und Entwicklungsingenieure der Wissenschaftlichen Werkstätten enorm erleichtert“, so Lorenz Assländer.
© L. Assländer & S. Streuber (2020) PLoS ONE 15(10): e0241479Teilweise finden die Versuche mit der Kippplattform in der virtuellen Realität statt. So kann die Umgebung, in der die VR-brilletragenden ProbandInnen das Gleichgewicht halten, gezielt manipuliert werden.
Virtual-Reality Brillen und andere VR-Technologien wurden bereits in der Vergangenheit für die Gleichgewichtsforschung eingesetzt, aufgrund technischer Limitierungen allerdings oft mit mäßigem Erfolg. In den letzten Jahren hat die VR-Technologie jedoch eine rasante Entwicklung durchgemacht, sodass einige der früheren technologischen Hürden inzwischen überwunden werden konnten. „Wir haben in einer unserer Studien festgestellt, dass sich die Ausgleichbewegungen der Probanden als Reaktion auf die gezielte Störung ihres Gleichgewichts auf der Kippplattform nicht zwischen Realbedingungen ohne VR-Brille und virtueller Realität unterscheiden, sofern die VR-Umgebung realistisch und detailgetreu ist“, schildert Lorenz Assländer ein aktuelles Studienergebnis.
Aktuelle VR-Technologien können also durchaus in der Gleichgewichtsforschung eingesetzt werden, um dort spannende neue Forschungsfragen zu untersuchen, die unter Realbedingungen schwierig zu erforschen wären. Der zentrale Vorteil: die visuelle Information, die den ProbandInnen während der Versuche gezeigt wird, kann nahezu beliebig manipuliert werden. „Das macht VR zu einem sehr mächtigen Instrument, um herauszufinden, welche Informationen aus der visuellen Szene vom Nervensystem für die Gleichgewichtserhaltung genutzt werden“, betont Lorenz Assländer. „Durch die Möglichkeit, eng mit den Entwicklern der Wissenschaftlichen Werkstätten zusammenzuarbeiten, sind die Einbindung dieses Instruments in andere Versuchsaufbauten und damit die Realisation komplexer VR-Projekte hier an der Universität Konstanz möglich.“