Den Atem behalten
Wann war für Sie das Projekt abgeschlossen?
Christina Zuber: Als ich wirklich verstanden habe, was auf allgemeiner theoretischer Ebene abläuft, und einen Weg gefunden habe, den Mechanismus der ideellen Stabilisierung zu beschreiben. Das war für mich der Schlüsselmoment. Der Rest war Fleißarbeit, alles überzeugend hinzuschreiben und am Ende auch noch mithilfe einer Lektorin sprachlich zu verbessern und zu kürzen. Es war ein schöner Moment, das fertige Buch in den Händen zu halten, aber für mich lag der Punkt der Vollendung früher.
Wie wurden Ihre Ergebnisse unter WissenschaftlerInnen aufgenommen und diskutiert?
Die GutachterInnen des Buches und auch KollegInnen von mir glaubten, meine Ergebnisse müssten sich verallgemeinern lassen. Das hat letztlich dazu geführt, dass ich diesen Gedanken mit ins Buch aufgenommen habe: Solch ideelle Vermächtnisse und, wie sie mit Vorstellungen von kollektiver Identität verknüpft weitergegeben werden, das finden wir auch in anderen Politikfeldern.
Ein Beispiel könnte die liberale Waffengesetzgebung in den USA sein. Viele wissenschaftliche Befunde sind sich einig. Es ist irrational, daran festzuhalten, weil sie so viele Menschenleben kostet. Aber Waffenbesitz gehört stark zur kollektiven Idee davon, wie sich die Vereinigten Staaten als Nation geschaffen haben: „Um dieses Land zu besiedeln, haben wir Waffen gebraucht. So sind wir geworden, wer wir sind! Und deshalb halten wir daran fest.“ Dabei werden die negativen historischen Geschehnisse ausgeklammert – im Prinzip hat man die Waffen gebraucht, um Genozid an der Urbevölkerung zu üben und das Unterdrückungssystem der Sklaverei trotz numerischer Unterlegenheit der Plantagenbesitzer aufrechtzuerhalten.
Sie haben gezeigt, dass sich ideelle Vermächtnisse als sehr stabil erweisen. Sehen Sie dennoch einen Weg, diese zu ändern?
Als ich das Buch beendet habe, habe ich mir genau diese Frage gestellt:
„Wie kommt man aus einem Vermächtnis raus, das eigentlich nicht förderlich ist? Auf der Basis meiner Forschung sehe ich, dass es auf keinen Fall reichen wird, auf eine veränderte Interessenskonstellation hinzuweisen. Weil es dieser Vorstellung kollektiver Identität völlig egal ist, ob sich die Situation ins Gegenteil verkehrt hat. Sobald ein politischer Gegner an diese Identität andockt, kommt man allein mit rationalen Argumenten schwer dagegen an.“
Christina Zuber
Ich glaube, die richtige Gegenstrategie wäre zu versuchen, die kollektive Identität selber sanft umzudefinieren. Denken wir an das zerstörte Deutschland der Nachkriegszeit, dann das Wirtschaftswunder, die florierende Produktion, die seit den 60er-Jahren mithilfe von Gastarbeitern aufrechterhalten wurde. Eine Botschaft könnte lauten: „Wir bauen Dinge wieder auf, auch aus Totalzerstörung, und wir tun das gemeinsam mit Menschen aller Herren Länder, aller Kulturen, aller Religionen. Genau das macht unsere deutsche Identität aus.“ Und diese Vorstellung von Deutschland als einer prosperierenden Einwanderernation könnte man verknüpfen mit rationalen Argumenten wie dem akuten Fachkräftemangel, den zu füllenden Rentenkassen usw. Das wäre beispielsweise eine Idee, die sich unmittelbar aus meinem Buch ergibt.
Ihre Ergebnisse sind ganz offensichtlich politisch und gesellschaftlich sehr relevant. Planen Sie, diese auch jenseits der Wissenschaft zu vermitteln?
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich Dinge herausgefunden habe, die auch für den deutschen Kontext relevant sind, nicht nur den internationalen. Als erstes habe ich einen Beitrag in dem politikwissenschaftlichen Blog „The Loop“ geschrieben, „Why migration politics in Germany is stuck in the past“. Darin wende ich meine Ergebnisse auf die Situation in Deutschland an, allerdings in englischer Sprache. Ich habe auch vor, einen ausführlichen Artikel für eine große deutsche Tages- oder Wochenzeitung zu schreiben.
Was fanden Sie rückblickend besonders herausfordernd an dem Projekt?
Den Atem zu behalten. Besonders, als ich merkte, dass der anfänglich überschaubare und für ein Post-doc-Projekt greifbare Rahmen einfach zu klein war und aufgesprengt werden musste: empirisch, weil ich historisch weiter ausholen musste, aber auch theoretisch, um eine Erklärung für etwas zu finden, das ich nicht erwartet hatte. Wenn ich nicht am Kulturwissenschaftlichen Kolleg noch ein halbes Jahr Zeit gehabt hätte, um viel nachzudenken und viel weitere Literatur zu lesen, wäre das Projekt nie so breit und damit für eine größere Leserschaft interessant geworden. Es wäre dann eben ein Buch über Minderheiten geworden.
Diese Art von „slow science“ halte ich für sehr wichtig für die Wissenschaft, denn wirkliche Innovation kommt oft erst zustande, wenn man nicht unmittelbar die erste Version eines Arguments publiziert, sondern noch weiter darüber nachdenkt. Und ich bin froh, dass ich den Atem behalten habe, obwohl ich – wegen des Tenure Tracks – nebenher weitere Artikel produzieren musste.
Das Interview über ihr Forschungsprojekt über ideelle Vermächtnisse und Migrationspolitik in europäischen Minderheitenregionen gab Christina Zuber, kurz bevor sie zu einem Forschungsaufenthalt in Ecuador und Peru aufbrach. In diesem Projekt geht es erneut um Minderheiten und die Frage, ob die Interessen der indigenen Bevölkerung besser von eigenen, indigenen Parteien oder durch Allianzen indigener Organisationen mit traditionellen Parteien vertreten werden. Aktuell ist Zuber in mehrere vergleichende Projekte eingebunden und hat auch schon ein weiteres Buchprojekt im Kopf.
Headerbild: Christina Zuber stellt ihr veröffentlichtes Buch in Konstanz vor. Foto: Lisa Mende, Universität Konstanz